Ortswechsel können Wunder bewirken. Wer immer das behauptete, er hatte recht.
Der Wind heute ist wirklich günstig, Nordost 4-5 Beaufort wie angekündigt. Und es ist sonnig seit dem Ablegen. Die Temperatur liegt um die 10 Grad. Und: die Ostsee begrüßt nurie und mich mit Wellenhöhen von einem bis anderthalb Metern. Laut Angaben der Windfinder-App. Ich tue mich mit der Einschätzung von Wellenhöhen immer etwas schwer und behelfe mir daher mit Umschreibungen: So hoch sind die Wellen, dass der nicht stattliche finnische Segler von mehr als zehn Metern Länge, der gestern kurz vor Dunkelheit in Swinouscje einlief und heute nicht lange nach mir startete, als er nurie etwa 2 Seemeilen vor dem Hafen nahe an Steuerbord überholt in den Wellentälern immer wieder bis über Deck außer Sicht gerät. Und so hoch, dass auch auf Halbwindkurs immer wieder eine bis zu mir an der Pinne in die Plicht klatscht. Nach zwei Stunden bin ich im Grunde schon ausreichend nass und erschöpft für diesen Tag. Und friere auch hinreichend. Die Plätze unmittelbar links und rechts neben der Pinne sind auf Am Wind- und Halbwindkursen sehr zugig. Zeit also, den Pinnenausleger ins Spiel zu bringen. Damit kann ich mich auf der Backskiste sitzend vor Wind und Welle verstecken. Wunderbar. Eine halbe Stunde später friere ich nicht mehr, eine Stunde später hat die Sonne meine Jacke größtenteils getrocknet. Mein Blick wandert beständig zwischen Usedomer Ostküste und GPS-Kompass hin und her. Und dazwischen: bezaubernd schöne tausend Farben blau.
Erster Wegpunt für heute ist die Tonne ODAS O, Kurs 317 Grad, dann geht es zwischen Greifswalder Oie und der Insel Ruden in den Greifswalder Bodden. Zuerst hatte ich Sassnitz und somit eine Umrundung Rügens gegen den Uhrzeigersinn erwogen, dann aber umentschieden. Ab morgen Mittag soll der Wind bis Übermorgen auf 7 und mehr Windstärken zulegen. Da müsste ich mich sehr beeilen, wollte ich noch rechtzeitig um Rügens Nordspitze Kap Arkona herumzukommen. Und Starkwind bis Sturm aus Nordost bis Ost will ich lieber unter Landschutz abwarten.
Außerdem bin ich heute später losgekommen als geplant. Nach Windprognose, den Erfahrungen gestern und aus Respekt vor der Ostsee wollte ich heute mit gerefftem Großsegel starten. Das neue Segel hat keine Reffreihe, daher stand ich um sechs Uhr früh am Steg, tauschte die Segel aus und band das Reff in unser altes Segel. Wie ein sehr alter Lappen fasst sich das im Vergleich zu dem neuen Segel an, dachte ich dabei. Und eine verschlissene Naht an einer der Lattentaschen fiel mir auf. Ich klebte HeavyDuty-Segeltape darüber, bereitete alles weitere und mich mit Kaffee und Müsli vor, legte um 8:23 Uhr ab, und setzte die Segel noch vor der Mole. Die Ostseemündung Swinoujscie ist breit genug dazu, auch bei stärkeren Strömungen und weit und breit war noch kein anderes Schiff unterwegs. Auch die genaue Einschätzung der Windstärke fällt mir schwer und ein Windmesser zählt nicht zur Bordausrüstung. Wieder eine Umschreibung: stark genug wehte es, um nuries altes Großsegel, kaum hochgezogen und noch nicht dichtgeholt, erneut an der dritten Refföse aufzureißen. Wie schon vor zwei Jahren in Ustka. Unsere Reparatur und Verstärkung der Nähte hat im letzten Jahr von Anfang bis Ende gehalten, was sind das für Winde hier in diesem Jahr? Gut jedenfalls, zwei Segelsätze mitzuführen. Der Zwischenfall entmutigt mich nicht, im Gegenteil. Ich fahre zurück in den Hafen, tausche erneut die Segel, lege um 9:38 wieder ab und setze beide Segel an exakt derselben Stelle, diesmal allerdings unter den Blicken von Matrosen eines einlaufenden polnischen Marineschiffs.
Gegen 15 Uhr liegt die Greifswalder Oie an Steuerbord, die Insel Ruden an Backbord und ich habe mich entschieden, den Hafen Gager anzusteuern und dort den vorhergesagten Starkwind abzuwarten.
Ich komme vor nurie an. Das geht so. Mit Strömung von Achtern auf den Steg zu treibend, der Motor ist bereits aus, befestige ich zuerst eine Heckleine am Poller, um nurie vor dem Steg zu bremsen. Dann springe ich mit einer Vorleine in der Hand auf den Steg. Dabei rutscht mir diese allerdings aus der Hand und nurie driftet in Strömungsrichtung etwas seitlich nach Backbord vom Steg weg. Dort ist genügend Platz, kein Problem. Nur kann ich nicht mehr an Bord. Auf einem kleinen Trollingboot auf der Rückseite des Steges entdecke ich einen Bootshaken und versuche die ins Wasser hängende Vorleine zu erwischen, als der Hafenmeister auf dem Rasenmäher vorbeifährt und sich erkundigt, was genau ich da tue. “Ich warte auf mein Boot” sage ich und frage, ob er mit einem längeren Bootshaken aushelfen kann. Nach knapp zehn Minuten ist er zurück, mit einer langen Holzlatte, an deren Spitze er einen Nagel befestigt hat. Damit erwischen wir die Holzleine und nurie ist jetzt auch in Gager. Nach meinem ersten Eindruck ein guter Platz, um einen kleinen Sturm abzuwettern. Und von misslichem Start und verzögerter Ankunft ungetrübt ein durchweg schöner erster Ostsee-Segeltag.